‚erotische‘ 1992/1993

Ernest Bornemann

Einführende Worte zu einer Ausstellung von Eberhard Jordan im Moulin Rouge

Wien, am 12. Mai 1993

 

eberhard jordan ‚erotische skulptur 09′ 1993 – zirbeholz – 30/30/25cm

eberhard jordan ‚erotische skulptur 09′ 1993 – zirbeholz – 30/30/25cm

Da ich kein Kunstkritiker bin und mir auch nicht anmaße, einer zu sein, kann ich über Eberhard Jordans Zirbenholzarbeiten nur als Sexualwissenschaftler und als kunstsammelnder Laie sprechen. Da ich obendrein einige Zweifel daran habe, ob es überhaupt möglich ist, Werte der bildenden Kunst in sprachliche Werte zu übersetzen, wird diese unfachmännische Auseinandersetzung mit einem Bildhauer, den ich schätze, so manchen Zuhörer irritieren.

Ich beginne mit zwei Punkten, die mir wichtig erscheinen. Erstens glaube ich, dass die Bildhauerei keine Umsetzung verbaler Konzepte in plastische Formen sein darf, sondern ein direktes Schöpfen aus dem dreidimensionalen Rohmaterial sein muss. Wenn der Bildhauer beschreiben könnte, was er macht, wäre er kein Bildhauer, sondern ein verunglückter Schrif1steller, der statt Worte Holz benützt.

Zweitens vermute ich, dass der Künstler – sei er nun Maler oder Musiker, Bildhauer oder Komponist – die Spannungen, die einerseits in ihm selbst, andererseits zwischen ihm und seiner Umwelt existieren, direkt und ohne verbale Brücke in Formen übertragen kann. Manche Rezipienten können diese Formen, wiederum ohne verbales Zwischenglied, dann in jene Spannungen zurückverwandeln, aus denen sie entstanden sind. Es findet also beim Künstler ein weitgehend unbewusster Prozess des Verschlüsselns statt, der beim Rezipienten einen analogen und ebenfalls weitgehend unbewussten Akt des Entschlüsselns provoziert.

Daraus ergeben sich zwei Folgerungen:

Erstens, dass der Akt des Rezipierens ein aktiver Vorgang ist, also Arbeit erfordert. Zweitens, dass jedes Kunstwerk, obgleich es sich nominell an alle wendet, von einigen Rezipienten klarer und intensiver wahrgenommen wird als von anderen. Zwischen ganz bestimmten Künstlern und ganz bestimmten Rezipienten bestehen ganz bestimmte Affinitäten, die anderen Rezipienten verschlossen bleibt.

eberhard jordan ‚erotische skulptur 10′ 1993 – zirbenholz – 30/25/35cm

eberhard jordan ‚erotische skulptur 10′ 1993 – zirbenholz – 30/25/35cm

Da sowohl diese Affinitäten wie die im Werk verschlüsselten psychischen Spannungen nicht verbalisierbar sind, kann der ganze Prozess auch nicht beschrieben werden. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, was in Eberhard Jordan vorgeht, wenn sein Schnitzmesser statt eines Ovals einen Kopf, statt einer Zickzacklinie ein Profil herausarbeitet. Ich weiß nicht, ob die Wirkung, die dabei in meinem Kopf entsteht, sich inhaltlich deuten lässt oder ob sie nur strukturelle Bedeutung hat, und ich will auch gar nicht darüber spekulieren, weil ich eben in solchen Spekula1ionen die Achillesferse der Kunstkritik sehe.

Dass erfolgreiche Künstler heutzutage vom Kunsthandel „gemacht“ werden und dass bestimmte Kunstkritiker dabei keine kleine Rolle spielen, weiß jeder. Ich glaube zwar nicht, dass völlig talentlose Künstler mit Hilfe der Publicity zu internationalen Namen emporgepuscht werden können, aber ich zweifle nicht daran, dass der Trend zur einen oder anderen Moderichtung heute nicht mehr von den Künstlern, sondern von ihren Händlern bestimmt wird. Zur Zeit des Impressionismus, des Expressionismus, des Kubismus und der Frühzeit des Surrealismus war das anders. Damals hinkte sowohl die Kritik wie der Handel hinter dem Erfindungsreichtum der Künstler um mindestens ein Jahrzehnt hinterher. Heute, im Zeitalter ungeheurer Investitionen des Kunsthandels, müssen Künstler innerhalb kürzester Zeit lanciert werden, damit Händler ihre Vorschüsse zurück kriegen.

Bildhauer wie Eberhard Jordan, die schnitzen, was sie wollen, und nicht, was der Händler erwartet, sind selten geworden. Da kein Händler hinter ihnen steht, geraten sie gegenüber dem launischen Käufer, der das Neuere stets für das Bessere hält, ins Hintertreffen. Hier muss der Sammler, der nur über .geringe Mittel verfügt, sich selbst aber Geschmack und Entscheidungsfähigkeit zutraut, ins kalte Wasser springen und dort gegen den Strom schwimmen.

eberhard jordan ‚erotische skulptur 13′ 1993 – zirbenholz – 30/30/27cm

eberhard jordan ‚erotische skulptur 13′ 1993 – zirbenholz – 30/30/27cm

Wie macht man das? Ich habe versucht, sowohl die ästhetisch wie die finanziell argumentierenden Kunstexperten zu lesen, bin dabei aber um keinen Deut weiser geworden. Entweder liebt man die Kunst und traut sich zu, das Bessere vom weniger Guten zu unterscheiden, oder man sollte wahrscheinlich die Hände vom Kunstkauf lassen.

Die einzige Möglichkeit, irgendetwas über Kunst zu lernen, liegt nach meiner Erfahrung darin, dass man mit Künstlern lebt. Und zwar nicht darin. dass man ihnen Fragen stellt, denn die meisten Maler, Musiker, Bildhauer, Grafiker und Komponisten sind im Gegensatz zu Schriftstellern, nicht besonders daran interessiert, sich in Worten zu erklären. Wer von ihnen verbale Kunsturteile erwartet, wird enttäuscht sein. Aber wer eine Wohnung oder ein Atelier mit einem Maler oder Bildhauer teilt, wer von morgens bis abends mit ihm zusammenlebt, der Reihenfolge seiner Arbeiten folgt seine Beziehungen zu seinen Kollegen beobachtet, sich merkt, welcher der anderen Künstler ihn beeindruckt oder verärgert, der wird allmählich eine gewisse Sensibilität für all das entwickeln, was einem Künstler wichtig ist.

eberhard jordan’erotische skulptur 12′ 1993 – zirbenholz – 30/30/30cm

eberhard jordan’erotische skulptur 12′ 1993 – zirbenholz – 30/30/30cm

Besonders nutzvoll ist es, wenn man selber zu zeichnen, malen, schnitzen versucht. Selbst wenn man nur minimales Talent hat, lernt man mehr aus dem praktischen, handwerklichen Versuch, die Sache selber zu machen, als aus sämtlichen Kursen der „art appreciation“. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es möglich ist, sich sogenannten Kunstverstand durch Konsum von Kunstwerken zu erwerben. Entweder »macht“ man Kunst, einerlei wie naiv, oder man lernt nie, was es ist, das der Künstler „macht«.

Ich habe oft in Ateliers befreundeter Künstler gesessen und sie bei der Arbeit beobachtet, bis sie vergessen hatten, dass ich da war. Ich habe gesehen, wie Bilder oder Skulpturen aus Skizzen entstehen, wie die Skizze verändert, verlassen, umgebaut worden ist, bis plötzlich etwas Neues entstand, das gar nicht vorgesehen war. Ein unbeabsichtigter Pinselstrich, ein Entgleisen des Schnitzmessers wird zum Anlass für neue, ausgleichende Pinselstriche, für kompensatorische Schnitte. So wird oft aus dem Improvisierten das Beste an der ganzen Arbeit.

Als mir Eberhard Jordan, auf meine Frage, was für Holz das sei, aus dem er da seine Werke schnitzt, antwortete, es sei Zirbenholz, dachte ich er meinte Zirbelholz und assoziierte es prompt mit der Zirbeldrüse, die Teil des Zwischenhirns ist, im Hirnstamm sitzt, einen starken Einfluss auf die Sexualität im Kindesalter ausübt und sich nach dem siebenten Lebensjahr allmählich zurückbildet. Die Zirbeldrüse – medizinisch „Epiphysis cerebri“ oder „corpus pineale“ – sondert Melatonin und Serotin aus, zwei Gewebshormone, die unsere Keimdrüsen, aber auch den Uterus, die Prostata und die Samenblasen beeinflussen. Sie wirken als Neurotransmitter im Sinne der Peristaltik, der Vasodilation und der Vasokonstruktion, sind also stark bewegungsfördernde Hormone.

Zirbelholz kommt aus jener Gruppe der Kiefern, zu denen auch die Libanonzeder gehört. Es ist hellgelb bis rötlich, feinfasrig und wegen seiner ätherischen Öle besonders wohlriechend. Da der Geruchssinn der älteste aller auf die Sexualität einwirkenden Sinne ist und bei fast allen Säugetieren mit Ausnahme des zivilisationsgestörten Menschen die Paarung auslöst, ergibt sich auch hier eine erotische Komponente.

eberhard jordan ‚erotische skulptur 07′ 1992 – zirbenholz – 25/30/36cm

eberhard jordan ‚erotische skulptur 07′ 1992 – zirbenholz – 25/30/36cm

ln den späteren Werken Eberhard Jordans ist diese Komponente nicht für jeden erkennbar – zumindest nicht beim ersten Anblick. Aber wenn der Künstler diese Komponente nicht selbst empfunden hätte, hätte er einen Kunstkritiker und nicht einen Sexualwissenschaftler gebeten, die einführenden Worte zu seiner Ausstellung zu formulieren. Normalerweise beschuldigt man uns, die Sexualwissenschaftler, ja immer, dass wir in den harmlosesten Dingen sexuelle Symbole sehen – jeder Spazierstock ein Penis, jede Handtasche eine Scheide, jede Hügelkette eine Landschaft aus Brüsten und Pobacken. Ich gebe zu, dass manche Kollegen, besonders die Psychoanalytiker unter uns, zu solchen Deutungen neigen.

Eberhard Jordan ist viel zu subtil und diskret dazu. Die Tatsache, dass seine Objekte beim ersten Blick weder primäre noch sekundäre Geschlechtsmerkmale darstellen, dass sie auf Anhieb nicht wie weibliche oder männliche Genitalien aussehen, soll uns aber nicht daran hindern, die Andeutungen wahrzunehmen, die sich dem Künstler auf dem Wege von der inneren Version zur handwerklichen Ausführung aufgedrängt haben. Deshalb will ich der Versuchung widerstehen, das Sexuelle an diesen Skulpturen zu analysieren.

Auf das Handwerkliche, das bei jedem Künstler mehr als nur Handwerk ist, möchte ich jedoch kurz eingehen. Holz ist ein organisches Material. Es hat eine völlig andere, sehr viel lebendigere Qualität als Marmor oder Bronze, Stein oder Eisen, Gips oder Plastik. Die Kunst des Holzschnitts, von Dürer, Altdorfer und Holbein zu höchster Perfektion erhoben, hat eine Wärme, die dem Kupferstich und der Lithographie fehlt. Die Holzbildhauerei, im Gegensatz zum Holzschnitt, arbeitet dreidimensional und wurde in der Vergangenheit vor allem in Kirchen verwendet. Dort wurden die Figuren meist „gefasst“, das heißt mit einem Kreide- oder Gipsgrund bedeckt und dann farbig bemalt. Eine solche Technik widerspricht unserem

eberhard jordan ‚erotische skulptur 02′ 1993 – zirbenholz – 60/25/20cm

eberhard jordan ‚erotische skulptur 02′ 1993 – zirbenholz – 60/25/20cm

heutigen Kunstempfinden, das jedes Material am liebsten unverbrämt sehen möchte. Wir wollen die natürliche Maserung des Holzes erkennen können. Wir wollen, dass Astlöcher und Astansätze nicht verborgen, sondern in das Werk integriert werden. Ja, wir wollen, dass der Künstler sich in seiner Formgestaltung von eben diesen gewachsenen Eigenschaften des Materials inspirieren lässt. Wir erwarten sogar, dass er den Inhalt seines Werkes in gewissem Ausmaß von der Form des Materials bestimmen lässt.

All das tut Eberhard Jordan meisterlich. ln seinen frühen Werken, so auch in der Skulptur, die die Einladungen zu dieser Vernissage ziert, kann man das Figür1iche noch sehr gut erkennen. Jeder sieht, dass das eine Frau ist, obgleich der Kopf fehlt und die Arme sich wie Pfeile zuspitzen. Trotz der Loyalität zum Figürlichen fällt aber auf, in wie hohem Maß das Becken und die Oberschenkel der Frau von der Maserung des Holzes geprägt sind. Je später die Arbeiten entstanden sind. desto abstrakter – und desto erotschischer – werden sie. Wie bei Hans Bellmer, dessen Zeichnungen und Lithographien einer nicht unähnlichen Logik folgen, herrscht in Jordans späteren Werken ein hohes Maß an gezielter Ambiguität. Ob eine nach außen gewölbte Rundung einen Kopf, eine Brust oder einen Hintern darstellt, bleibt dem Zuschauer überlassen. Ob eine Höhlung einen Mund, eine Vagina oder einen Anus verkörpert, wird mit gezielter Doppeldeutigkeit verborgen. Die Gesetze der Anatomie werden aufgehoben, wie auf den erotischen Photographien von Tilo Keil, wo Lippen zu Schamlippen und männliche zu weiblichen Geschlechtsteilen werden. Wer die „idolischen Bronzen“ von Alfred Aschauer kennt, ist mit dieser Doppelsinnigkeit vertraut. Es herrscht eine Art von Bisexualität, von Zwitterhaftigkeit, wie in manchen Werken von Archipenko. Als Archipenko einmal gesagt hat, er sei sich dieser Zwitterhaftigkeit gar nicht bewusst gewesen, enthüllte er die unbewusste, die libidinöse Komponente seines Schaffens.

Das bringt mich als Letztes zu der heute so oft vernommenen Kritik, dass männliche Kunst – zumindest in ihren unbewussten Dimensionen – stets sexistisch sei, einerlei was der Künstler in seinen unbewussten Absichten auch anstreben mag. Genau wie die Frauen den Männern meines Berufs geraten haben, uns doch gefälligst nicht mehr mit der weiblichen Sexualität zu befassen und uns stattdessen um unsere eigene Sexualität zu kümmern, so liest man ja in den Büchern und Zeitschriften weiblicher Autoren immer häufiger, dass die männlichen Künstler gefälligst davon Abstand nehmen sollten, sich mit Frauen und allem anderem, dass das weibliche Prinzip darstelle, zu befassen. Denn einerlei, wie viel Mühe wir Männer uns auch geben mögen, das Weibliche positiv darzustellen, es käme doch immer etwas Negatives dabei heraus. Das gelte genauso für die schönen Frauen in der Palmers-Werbung wie für die hässlichen in Picassos Gemälden. Siehe hierzu die feministische Kritik an Picasso in der Biographie von Arianna Stassinopulus Huffington.

heinz schimanko – eberhard jordan – erndest bornemann - 1993

heinz schimanko – eberhard jordan – erndest bornemann – unbekannt – 1993

Für mich, einen alten Mann aus einer aussterbenden Generation, ist das sehr schmerzlich. Selbst wenn die Kunst des gesamten Patriarchats sexistisch wäre, frage ich mich doch, ob denn auch die von Männern geschaffenen Werke in mutterrechtlichen oder frauenrechtlichen Kulturen latent frauenfeindlich seien. Auch in der lehranalytischen Bewusstmachung meines eigenen Unterbewussten vermochte ich nur heterosexuelle Bewunderung, ja geradezu Ehrfurcht vor den Frauenbildern der großen Maler und Frauenskulpturen der großen Bildhauer zu entdecken. Ich habe das Gefühl, dass gerade die Kunst es irgendwie schafft, uns über die Tücken des jeweiligen Gesellschaftssystems, in dem wir vegetieren, zu erheben. Ich glaube zum Beispiel, – und bin mir bewusst, dass das in manchen Ohren recht naiv klingen muss – dass der weibliche Akt für den heterosexuellen Mann die gleiche Funktion hat und denselben Status besitzt wie das Heiligenbild für die gläubige Frau. Für mich sind solche Werke Erhöhungen zum Subjekt und nicht Erniedrigungen zum Objekt. Das gilt für die hoch abstrahierenden Kompositionen Eberhard Jordans genauso wie für die scheinbar so realistischen Bronzen eines Rodin.

Vielleicht, wie das bei alten Leuten so üblich ist, projiziere ich meine eigenen Phantasien in diese Holzfiguren hinein, wenn ich sage, dass sie mich an die mythischen „Holzweibchen“ oder „Holzfräuleins“ meiner keltischen Heimat im Spreewald erinnern – an jene gutmütigen Waldgeister, die für mich in meiner Kindheit die Verkörperungen der ersehnten ersten Geliebten darstellten.

 

Ich danke ihnen, meine Damen und Herren, für ihre Geduld mit mir und erkläre diese Ausstellung nun für offiziell eröffnet.

 

ernest bornemann, eberhard jordan 1993

ernest bornemann, eberhard jordan 1993

fotos: hans wetzelsdorfer

herzlicher dank auch an heinz werner schimanko für die einladung zu dieser ausstellung